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Zerstörung und Wiederaufbau – „Collapse and Recovery“

„Wieviel Staub kann ein einzelner Reiter schon aufwirbeln?“ Afghanisches Sprichwort

Carolyn Christov-Bakargiev nannte vier Bedingungen bzw. Zuständen unter denen Kunst am besten entstehen könnte: “Unter Belagerungszustand, im Zustand der Hoffnung, im Rückzug und auf der
Bühne”, ein weiteres Thema der documenta 13 sollte „Zerstörung und Wiederaufbau sein“.((Christov-Bakargiev 2012 sowie Geiger 2012a, S. 1.)) Zwei Werke, die aus Stein gemeißelten Bücher von Michael Rakowitz und der Digitalcollagenteppich von Goshka Macuga setzen sich in besonderer Weise mit der Thematik „Zerstörung und Wiederaufbau“ auseinander, berücksichtigen aber auch die vier Bedingungen unter denen Kunst entstehen kann.

Die Steinernen Bücher oder „What Dust will Rise“ von Michael Rakowitz

Michael Rakowitz (geb. 1973), ein amerikanischer Künstler mit jüdisch-irakischen Vorfahren, setzt sich mit der Installation „What dust will rise ? (Eine Kosmologie mit Blick auf ein Projekt für die dOCUMENTA (13)“ mit der Zerstörung von Kunst, ebenso mit ihrem Wiederaufbau, gleichermaßen aber auch mit der Beziehung von Okzident und Orient (westliche Welt – Afghanistan) auseinander((documenta 2012, S. 110.)).

Michael Rakowitz documenta

Abb. Michael Rakowitz, documenta, Verbrannte Bücher, eigene Aufnahme.

Bücher, die bei einem Bombenangriff auf das Fridericianum 1941 zerstört bzw. fast verbrannten auf der einen Seite, die Travertin-Gesteinsreste zweier Buddha-Statuen aus dem Bamiyan-Tal in Afghanistan aus dem 6. Jahrhundert, die 2001 von den Taliban gesprengt wurden, auf der anderen Seite. Betrat man den Raum im Fridericianum, in dem sich die Installation von Michael Rakowitz befand, so fiel der Blick auf vier Glasvitrinen und vier lange Glastische, auf denen sich 33 Bücher aus Stein befinden. In den Vitrinen befanden sich entweder die Überreste verbrannter Buchseiten, Steinbrocken der gesprengten Buddha-Statuen, aber auch Gegenstände bzw. Reste von anderen zerstörten Orten, wie zB ein Stück eines Granitbodens des am 11. September 2011 zerstörten World Trade Centers in New York, aber auch weitere Fundstücke aus Bamiyan, wie Patronenhülsen, Teile von Militärfahrzeugen, ein Amulett, das sich in der Hand eines zerstörten Buddhas befand, weiters ein Bruchstück eines Meteoriten, der am 11. September 1954 auf die Erde traf sowie eine sumerischen Keilschrift-Tontafel aus der irakischen Antike, die ein Feuer zufällig überstand.((documenta 2012, S. 110.)) Ein digitaler Rundgang ist hier möglich – Link.

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Abb. Michael Rakowitz, Bücher aus Stein, documenta 13, eigene Aufnahme.

Aus den Überresten der Steine der Buddha-Statuen ließ Michael Rakowitz Bücher von afghanischen und italienischen Steinmetzen nachmeißeln. Bücher aus Stein, die einigen wenigen von den 400.000 Büchern nachgebildet sind, die die 1941 verbrannten und zerstört wurden. Imitationen von wertvollen Handschriften, wie der Willehalm-Codex aus dem 14. Jahrhundert oder das Hildebrandslied aus dem 9. Jahrhundert.((Geiger 2012a, S. 1.)) Die reich verzierten Werke wurden aus Bamiyan-Stein nachgebildet, Ornamente, Verzierungen, Edelsteine, mal lagen die Bücher geöffnet, mal geschlossen, teilweise wurde aber auch die Zerstörung durch das Feuer nachgemeißelt.((Geiger 2012a, S. 1.))

Interpretation des Werks von Michael Rakowitz

Welche Bedeutung oder Assoziationen können hinter den Steinbüchern stecken ? Die über die Zeit reichende und Orte übergreifende Auseinandersetzung mit der Zerstörung der Büchern, der Verwüstung des Kulturerbes und der Auslöschung von Menschenleben wird mit dieser Installation von Rakowitz in einer gleichsam sehr ansprechenden, anregenden, anderseits beklemmenden, erdrückenden Weise umgesetzt. Die Kunst könne so „die Wunden der Geschichte zumindest metaphorisch lindern“ und dadurch „paradoxe Verknüpfungen von Raum und Zeit schaffen“.((hr 2012.)) Dies führt wieder zurück zum Themenkomplex „Zerstörung und Wiederkehr“. Die Verwendung des Materials Steins für die Installation hat die Konsequenz, dass die Bücher zwar äußerlich rekonstruiert sind, aber stumm, ihres Zweckes, dem Lesen, der Bildung, beraubt sind. Geiger verweist hier auf die ursprüngliche Funktion von Stein und Büchern – auf die Konservierung religiösen Wissens.((Geiger 2012a, S. 2.))

Auch der Titel „What dust will rise“ bedarf noch einer näheren Betrachtung. Übersetzt bedeutet dies: Welcher Staub wird auferstehen. Geiger verweist in diesem Zusammenhang auf den Propheten Jesaja und darauf, dass dieser sowohl im Juden- als auch im Christentum ein wichtiger Prophet sei. Die relevante Stelle, Jesaja 26,19 lautet auf Englisch: “Your dead shall live; their bodies shall rise. You, who dwell in the dust, awake and sing for joy”.((Geiger 2012a, S. 2 mwN.)) Auf Deutsch lautet die Stelle: Deine Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf; wer in der Erde liegt, wird erwachen und jubeln.)) Die hier formulierte Frage, welcher Staub auferstehen wird, im Kontext zur Frage, wessen Religion nun die richtige sei, deutet auf die gewaltsamen Konflikte der Religionen. Die Buddha-Statuen waren für die Taliban islamgefährdend, es wurden daher „nur Steine zerbrochen“, die Zerstörung der Bücher im 2. Weltkrieg ist letztlich auch „nur“ eine Folge der vernichtenden Gewalt von Kriegen.((Geiger 2012a, S. 2 mwN.)) Durch die Verwendung der Buddha-Statuen wird eine weitere Weltreligion, der Buddhismus, der in Afghanistan vor der Islamisierung eine große Rolle spielte, aufgenommen.((Geiger 2012a, S. 3. ))

Einige dieser Steinbücher (unter dem Titel Zerstörung und Wiederaufbau) werden auch in Kabul gezeigt, eine der Organisatorinnen vor Ort, Nabil Horachsch, musste einem älteren Besucher aus Afghanistans erklären, was diese Installation bedeutet: „Es ist eine Botschaft an die Welt, dass wir niemandem je wieder erlauben werden, unsere historischen Bücher zu verbrennen.“((Bhandari/Kakar 2012.)) Unter dem Deckmantel der Religion wurden und werden Kriege geführt, der Aussage von Horachsch ist hinzuzufügen, dass nicht mehr nur historische Bücher verbrannt werden dürfen, sondern auch Kulturgut, das für bestimmte Religionen von Bedeutung ist, nicht „nur Stein“ ist und daher nicht zerstört werden darf, aber auch, dass wir niemanden je wieder erlauben dürfen, dass Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ermordet werden. Der Künstler selbst äußerte sich zu seinem Werk mit folgenden Worten: „So definiert ein kultureller Verlust, den anderen“.((Bodin 2012a, S. 83.))

Während der Aufbauarbeiten im Queen’s Palace in Kabul trug sich noch folgende Episode zu: Michael Rakowitz zog ein Foto des zerstörten Fridericianums hervor, ein anwesender afghanischer Helfer sah dies und fragte ihn, ob dieses Afghanistan sei.((Arend 2012.)) Zerstörte Ruinen, die eine in Kassel, die andere in Kabul, verbindendes und überleitendes zu Goshka Macuga.

„Of what is, that is, of what is not, that it is not“ von Goshka Macuga

Goshka Macuga

Abb. Goshka Macuga, Of what is, that it is; of what is not, that it is not 1, documenta 13, eigene Aufnahme.

Goshka Macugas 2012 geschaffener Wandteppich, “Of what is, that it is; of what is not, that it is not 1”, mit den Maßen 5,2 mal 17,4 m, findet sich ebenfalls im Fridericianum und zwar im zweiten Obergeschoß der Rotunde, ein zweiter Wandteppich wird im Queen’s Palace in Kabul gezeigt. Die anlässlich zur Documenta angefertigten Werke der Künstlerin zeigen zum einem (Ausstellungsort Kassel) die Gäste eines im Februar 2012 veranstalteten eines von Macuga veranstalteten Banketts im Bagh-e Babur vor der Ruine des 1920 von Walter Harten erbauten Darul-Aman-Palastes, zum anderen (Ausstellungsort Queen’s Palace) die Verarbeitung von Fotos anlässlich der Arnold BodePreisverleihung im Oktober 2011 an die Künstlerin eingebettet in die Karlsaue, vor dem Hintergrund der Orangerie in Kassel (dieser Wandteppich ist 3 x 12 m groß).((Der Darul-Aman-Palast hätte das afghanische Parlament beherbergen sollen (Geiger 2012b) sowie documenta 2012, S. 88.))

Der Wandteppich bedeckte die gesamte Wand der Rotunde, ein Wandteppich, der erst auf dem zweiten Blick als solcher erkennbar ist, so realistisch ist dessen Ausführung, eine Wirkung wie eine Fotografie verbunden mit einer Einladung den Schauplatz selbst zu betreten, zwei Paar Schuhe am unteren linken Rand, führen den Betrachter in den schwarz-weißen Teppich hinein. Im Hintergrund, auf einem Hügel stehend, in eine Winterlandschaft eingebettet, die Ruine des DarulAman-Palastes, vor diesem eine Menschenreihe, die fast über die gesamte Breite des Teppichs reicht und deren Teilnehmer nahezu alle frontal auf den Betrachter blicken, einem Wall gleich. In der Mitte, vorne, zentriert eine riesige Schlange, die aufgerichtet, ebenso ihre Beobachter fixiert, gleichsam aber einem (aus Sicht des Betrachters links von ihr) Mann im Anzug zugewandt ist, der sie aber in Denkerposition verharrend, den Blick ins Nichts gerichtet, nicht wahrzunehmen scheint. Im rechten unteren Bildrand liegen mehrere Personen, bekleidet, aber ohne Schuhe, die entweder schlafen oder auch verstorben sein können. Links von der Schlange befinden sich drei traditionell gewandete Araber, von denen einer den Betrachter beobachtet. Lässt man den Blick von links nach rechts wandern, so stößt einen eine auf den Betrachter gerichtete Kanone diesen wieder aus dem Geschehen um letztlich wieder von der aufgerichteten Schlange hingezogen zu werden.

Die architektonische Gegebenheit der Rotunde des Fridericianums inspirierte Macuga einen „Zwilling“ zu schaffen, einen halbrunden Raum, der Halbwahrheiten zeigt, ein Gefüge aufeinander bezogener zeitlicher Ebenen.((documenta 2012, S. 88.)) Der Raum in Kassel spiegelt den Zwilling, den Halbkreis, in Kabul, gleichzeitig, vervollständigen sie sich gegenseitig. Die Ruine des Darul-Aman-Palastes selbst erzählt nach Christov-Bakargiev einiges über „Widersprüche von Wahrheit, Geschichte, Krieg und Humanität.((Rosenau 2012, S. 84.))Parallelitäten zu Kassel tun sich auf mehreren Ebenen auf, neben der bereits erwähnten Zerstörung der Gebäude, weisen beide einen ähnlichen Grundriss auf, beiden waren als Parlament gedacht.((Bodin 2012b, S. 88.)) Durch die beiden Teppiche soll ein Dialog zwischen westlicher Welt und Afghanistan hergestellt werden, klassische Vorbehalte an Afghanistan wie der Schlangenbeschwörer, die vermummten Wüstenbewohner, die „Leichen“ und die Kanone, die für die Bedrohlichkeit steht, sollen als Trugschluss entlarvt werden.((Geiger 2012b, S. 3. )) Es öffnet sich eine weitere Verbindung zu Kassel und Kabul und zu einer weiteren dOCUMENTA-Künstlerin und zwar Mariam Ghani, die in „Eine kurze Geschichte des Zusammenbruchs“ Bilder des Darul-Aman-Palastes und des Fridericianums zeigt. Diese Fotomontagen, umgesetzt in den Wandteppichen, greift politische Geschehnisse wie Krieg, Verhandlungen, Vorbehalte, Ressentiments etc. auf und wird von Goshka Macuga zu historiographischen Wandarbeiten verwebt.

Collapse and Recovery – Zusammenfassung

Was „Zusammenbruch und Wiederaufbau“ bedeutet, versteht ein Bewohner, in dessen Land kaum ein Gebäude den Krieg oder Bürgerkrieg überstand, ohne Worte, sei es nun in Afghanistan oder in Deutschland. Vor unserem Besuch der dOCUMENTA lief auf 3SAT ein Beitrag über die Michael Rakowitz Installation. Die Symbiose, dass aus zerstörten Material etwas geschaffen wird, was selbst der Vernichtung bzw. Zerstörung preis gegeben war, übte eine große Faszination aus. In realiter vor den Steinbüchern zu stehen, die Splitter, die verbrannten Bücher, den Bamiyan-Stein zu sehen, war unbeschreiblich. Goshka Macugas Wandteppich tat sein übriges. In den Medien wurde vorab so viel darüber berichtet, ja sogar Carolyn Christov-Bakargiev selbst meinte, dass der dOCUMENTA kein Konzept innewohne, nach dem Betrachten beider Werke, gesehen im Gesamtkontext vieler anderer Kunstwerke wie die schon erwähnten Videos von Mariam Ghani, die gezeigten Objekte, die im libanesischen Bürgerkrieg beschädigt wurden, die wunderbaren Apfelbilder von Korbinian Aigner, umweht dem Besucher, wie im Eingangsbereich die Installation von Ryan Gander, ein kühler Wind, ein Hauch von Inspiration, der plötzlich für einen Moment an glasklarer Erkenntnis sorgte und deutlich das Verbindende an den Kunstwerken der dOCUMENTA vor Augen führte.

Literaturverzeichnis

Arend 2012

Ingo Arend, Die Kunst als Aufbauhelfer, URL: http://www.taz.de/!96101/.

Bhandari/Kakar 2012

Subel Bhandari/Hares Kakar, documenta weckt Hoffnung, URL: http://www.hr-online.de/website/specials/documenta13/tour/index.jsp?rubrik=75064&key=standard_document_45256949.

Bodin 2012a

Claudia Bodin, Michael Rakowitz, in: art. Das Kunstmagazin, Juni 2012, S. 83.

Bodin 2012b

Claudia Bodin, Mariam Ghani, in: art. Das Kunstmagazin, Juni 2012, S. 88.

Christov-Bakargiev 2012

Carolyn Christov-Bakargiev, Eingangstext zur 13. Documenta, URL: http://www.bilderlernen.at/texte/documenta_13.html.

documenta 2012

documenta/ Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH, dOCUMENTA (13), Das Begleitbuch, Katalog, Ostfildern 2012.

Geiger 2012a

Julia Geiger, Zum Documenta-Werk von Michael Rakowitz „What dust will rise?” im Fridericianum, URL: http://vermittlung-gegenwartskunst.de/downloads/MaterialKuenstler/Michael+Rakowitz.pdf (Stand 25.7.2012). PDF-File leider nicht mehr abrufbar.

Geiger 2012b

Julia Geiger, Zum Documenta-Werk von Goshka Macuga, “Of what is, that it is; of what is not, that it is not 1”, URL: http://vermittlung-gegenwartskunst.de/downloads/MaterialKuenstler/Goshka+Macuga.pdf (Stand 25.7.2012). Auch dieses PDF ist leider nicht mehr online.

hr 2012

hr, Michael Rakowitz: What Dust will rise?, URL: http://www.hr-online.de/website/specials/documenta13/.

Rosenau 2012

Mirja Rosenau, Goshka Macuga, in: art. Das Kunstmagazin, Juni 2012, S. 84.

Anmerkung

Dieser Beitrag basiert auf einem Exkursionsbericht zur dOCUMENTA 13 im Jahr 2012, der im Rahmen der Exkursion des Instituts für Kunst und Gestaltung der TU Wien absolviert wurde.